„Wer hier herkommt wird zweimal weinen, wenn er ankommt und wenn er geht!“ – Willkommen im Süden (2010) „Mamma Mia, wem sagt er das?!“

„LAAAUUUUUUFFFF! Schnell BeaBu, beeil dich! Siehst du da drüben hinter der Straße den Seiteneingang vom Stadion? Die drei Stufen hoch, da sind wir in Sicherheit!“ Blanke Panik spricht aus meiner Mutter. Zuerst verstehe ich nicht, was sie meint, aber dann höre ich schon die Glocken aus der Ferne hinter uns und es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Wie konnte ich nur so auf dem Schlauch stehen! So schnell wir können laufen wir über die Straße auf den Seiteneingang des Stadions zu. Und da bricht hinter uns auch schon die Hölle los…

Die Vorgeschichte…

In den Tiefen der bayrischen Alpen beschloss jemand, eine Kinderklinik in ein wundervolles, malerisches Städtchen zu bauen. Vielleicht war ihm das Städtchen einfach zu verschlafen, vielleicht aber war es für ihn auch schlicht zu eintönig, jedenfalls war damit spätestens Schluss, als aus dem 1926 ursprünglich erbauten „Kindergenesungsheim der Inneren Mission“ im Kampf gegen die Tuberkulose 1952 die größte Kinderrheumaklinik entstand. (Quelle: http://www.rheuma-kinderklinik.de/flipping/jubilaeum/) Seitdem tingeln jährlich tausende junge Rheumatiker aus ganz Deutschland und Europa in die traumhafte Postkartenmotiv-Umgebung, um in den Genuss eines hochkompetenten, interdisziplinär wertgeschätzten und atmosphärisch einzigartigen Krankenhauses zu kommen und zusätzlich die leckeren Cocktails zur bestgelegenen Happy-Hour vom Mexikaner um die Ecke zu schlürfen… und Chaos zu verbreiten. Meine Schwester bezeichnete es mal sehr treffend als „Ferienlager mit Medikamenten“! Als ich jedoch damals mit 14 Jahren zum ersten Mal dorthin kam, war ich alles andere als begeistert. Ich war eine an den Rollstuhl gefesselte, von allen Seiten abhängige Großstadtgöre in der tiefsten Provinz. Und obwohl ich mir im Vorhinein ziemlich viel von dem Aufenthalt versprochen hatte, war ich alles andere als begeistert zu erfahren, dass ich beim Erstaufenthalt 6-8 Wochen in diesem Kaff verbringen darf. Am Ende wurden es sogar zweimal acht Wochen mit einer Unterbrechung, als sie mich für zwei Wochen nach Hause entließen.

Zugegebenermaßen blieben zumindest für die ersten zwei Wochen meine Mutter und meine kleine Schwester in einem Apartment vor Ort. Die darauffolgenden Wochen schaffte sie es, jeden Freitag 700 km zu mir hoch (bzw. runter) und Sonntags wieder zurück nach Hause zu fahren. Freitags schaffte sie es sogar, mir immer noch einen Gutenachtkuss zu geben. Samstags und sonntags holte sie mich nach dem Frühstück ab und wir verbrachten die Tage außerhalb der Klinik, bevor sie sonntags am späten Nachmittag wieder 700 km nach Hause fuhr. Immer mit meiner kleinen Schwester im Schlepptau, manchmal auch zusammen mit meinem Vater oder ab und zu in Begleitung meiner Großeltern – einmal sogar mit allen zusammen.

Derweilen gab es unter der Woche ein ziemlich striktes Programm: Abgesehen von festen Essenszeiten mit Medikamenten und anschließender Zwangspause von 15 Minuten, um die Gelenke mit Kühlpacks zu temperieren, war man selbständig für seine Termine im Haus, für tägliche Physiotherapie, Ergotherapie, Massagetherapie, Elektrotherapie und Schwimmen verantwortlich. Von Montag bis Freitag gab es vom Sozialdienst immer ein Abendprogramm, an dem man sich freiwillig beteiligen konnte. Meistens waren es irgendwelche Unternehmungen wie Billard spielen,  Videoabende, Kinobesuche oder Kickerturniere. Und die restliche Zeit dazwischen konnte man machen, was man wollte und als minderjähriger Jugendlicher auch die Klinik tagsüber verlassen, natürlich nur mit schriftlicher Erlaubnis der Eltern. Man musste nur seine Termine einhalten, zu den Mahlzeiten vor Ort sein und sich bis 20.00 Uhr wieder auf Station melden (als Volljähriger um 22.00 Uhr zur Klinikschließzeit). Dann konnte man einkaufen gehen, die Stadt unsicher machen, die Umgebung erkunden, an den See fahren und und und… Aber das Tollste waren immer die Freunde, die man in der Klinik fand, mit denen man dann die Termine und die Freizeit zusammen gestalten konnte. Manche von den damals geschlossenen Freundschaften überdauerten ein Leben lang, andere trafen sich immer wieder nur dort, manche stimmten ihre Aufenthalte miteinander ab und manche hatten den typischen Ferienlager-Charakter: „Wir werden immer beste Freunde bleiben und ich werde dir ganz oft schreiben und wir telefonieren“ – und noch bevor man zu Hause ankam, wusste man, dass das nie passieren würde. Nach meinem ersten Aufenthalt fuhr ich noch ein paar Jahre jährlich zur Kontrolle und irgendwann war ich so gut eingestellt, dass ich nicht mehr hin musste.

Bis zum Sommer, als ich mit 25 Jahren wieder hinfuhr. Meine Medikamente mussten neu eingestellt werden und nach langem Hin und Her waren die Ärzte in meiner geliebten Großstadt mal wieder unfähig und ich beschloss: „Die Kinderklinik ist immer eine Reise wert!“ Sobald ich den Fuß über die Schwelle der Klinik gesetzt hatte, verfiel ich zurück ins Teenagerdasein. Ich schloss mich einer witzigen Gruppe von 16- bis 21-Jährigen an und hatte so viel Spaß wie damals. Wir erledigten unsere Pflichttermine gemeinsam, gingen Cocktails trinken und fuhren an den See zum Schwimmen. Selbst meine Mutter kam mich wieder am Wochenende besuchen.

Und so begann das oben beschriebene Actionfilm-Szenario …

Meine Mutter holte mich am Samstag gewohnt nach dem Frühstück ab und wir erkundigten uns bei meiner Lieblingskrankenschwester nach einem netten Restaurant zum Mittagessen, was wir vielleicht noch nicht kennen würden. Etwas uriges, vielleicht auch etwas weiter weg, vielleicht mit Aussicht. Da fiel ihr ein passendes oben auf einem kleinen Berg ganz in der Nähe des Eishockey-Stadions ein. Wir nahmen uns ein Taxi und 20 Minuten später waren wir dort. Es war traumhaft. Das Wetter war toll, die Aussicht bombastisch und das Essen war vorzüglich. Beim Verlassen entdeckte ich ein Schild, auf dem der Wanderweg den Berg hinunter zum Eishockey-Stadion beschrieben war und noch bevor wir uns wieder ein Taxi riefen, sagte ich: „Warte mal kurz, Mama, ich will mir das mal näher ansehen!“ Wir gingen um das Restaurant herum, wo der Wanderweg startete und ich schaute soweit ich konnte in den Weg hinein. Ein schmaler befestigter Weg, links Wald, rechts Klippe mit herrlicher Aussicht. „Liebling, du weißt schon, dass wir uns nicht auf halber Strecke ein Taxi rufen können?“ „ Ja Mama, aber schau: Da sind überall Sitzbänke. Ich geh davon aus, dass sie den ganzen Weg nach unten alle paar Meter eine aufgestellt haben und selbst wenn nicht, dann gehen wir einfach ein wenig spazieren und kehren wieder hierher zurück und rufen uns dann später das Taxi hier hin.“ Meine Mutter war begeistert, so viel freiwilligen Bewegungsdrang musste sie einfach unterstützen und wir gingen los. Die ersten 100 Meter konzentrierte ich mich mehr darauf, nach einer Bank Ausschau zu halten, aber da mein Verdacht sich schnell bestätigte und alle paar Meter eine in Sicht kam, entspannte ich mich und genoss das herrliche Wetter, die malerische Aussicht und die nette Konversation mit meiner Mutter. Bald kam ein Schild, das die Hälfte des Weges kennzeichnete. Danach wurde der Weg allmählich breiter, links und rechts wurde aus Wald und Hang immer mehr Wiese und Tal und als mir allmählich bewusst wurde, dass wir ja bald da sein müssten und ich mich immer noch nicht einmal hingesetzt hatte, blieb meine Mutter mitten in dem Satz, den sie gerade noch sprach, abrupt stehen. Eine riesige Kuhherde  erstreckte sich von den  beiden Wiesen links und rechts des Weges über den Weg. Die standen da und grasten. Was jetzt? Abgesehen davon, dass meine Mutter ziemliche Angst hat vor Pferden, Kühen und eigentlich jedem Tier, das größer ist als ein Bernhardiner, gab es aufgrund der Größe der Herde auch keine Möglichkeit, außen rum zu laufen, und zurück zu gehen kam gar nicht in Frage, schließlich waren wir fast unten. „Schau mich an, Mama! Wir machen es jetzt ganz langsam. Ich hake mich bei dir unter und du schließt die Augen oder konzentrierst dich nur auf deine Füße, als hättest du Scheuklappen an und könntest außerhalb deiner Füße nichts sehen, und ich führe uns da ganz behutsam durch!“ Mit weitaufgerissenen Augen und unfähig, auch nur einen Piep von sich zu geben, nickt meine kreidebleiche Mutter mir langsam zustimmend zu. Da müssen wir jetzt beide durch. Gesagt, getan. Ich hakte mich bei ihr ein und führte uns unversehrt durch die Herde. Am anderen Ende stand der Hirte und nickte uns freundlich zu, und knapp einen Kilometer weiter war auch schon das Stadion zu sehen. Glücklich, aus der Herde raus zu sein und das Ende des Weges vor Augen zu haben, wollte ich gerade gemütlich weiterschlendern, da merke ich, wie meine Mutter an meinem Arm zieht und zerrt. Ich rolle innerlich mit den Augen und denke mir, sie will einfach schnell den Abstand zwischen sich und der Herde vergrößern. Das war es dann jedenfalls mit der Gemütlichkeit, und im etwas schnelleren Schritt kommen wir am Ende des Weges und somit auf der anderen Straßenseite des Stadion an. „Hier kann uns jetzt das Taxi abholen, ich gehe nicht einen Zentimeter weiter!“ geht es mir durch den Kopf und ich bleibe stehen. Da brüllt mir meine Mutter panisch entgegen („LAAAUUUUUUFFFF!“…) und fängt an, an mir rumzuziehen und zu zerren, und auf einmal höre ich die Kühe hinter uns den Berg runter donnern.

Wir schafften es in letzter Minute, uns im Seiteneingang vom Stadion vor der Herde in Sicherheit zu bringen und beobachteten die Kühe, die wie vom wilden Affen gebissen den Berg runter donnerten, auf die Straße liefen und erst kurz vor uns abbogen. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Wäre ich auch nur eine Minute langsamer gewesen oder hätte der Hirte auch nur etwas früher seinen Rückweg angetreten, wären wir eiskalt unter die Hufe gekommen.

Als auch die letzte Kuh endlich weg war, trauten wir uns aus dem Eingang und riefen uns ein Taxi. Da mittlerweile Abendessenszeit war, fuhren wir direkt zur Happy Hour zum Mexikaner, danach verabschiedete sich meine Mutter von mir und ich betrat kopfschüttelnd und lachend die Kinderrheumaklinik: Hmmm… dagegen loost die Geschichte, wie ich mich hier in der Zufahrt vom Kinderkrankenhaus halb nackt auf ein Motorrad geschwungen habe, aber gehörig ab.

Ich sagte doch: Ferienlager mit Medikamenten, immer eine Reise wert!

À bientôt

Eure BeaBu

 

5 Gedanken zu „„Wer hier herkommt wird zweimal weinen, wenn er ankommt und wenn er geht!“ – Willkommen im Süden (2010) „Mamma Mia, wem sagt er das?!“

  1. Sarah sagt:

    Ich musste gerade beim lesen so herzhaft Lachen. Ferienlager mit Medikamenten… genau das triffts am besten.
    Ich weiss noch genau wann wir uns das erste mal gesehen haben. Wir waren beide 14 Jahre alt und hatten Mathe in der Klinikschule. Du hattest überhaupt keine Lust auf Mathe und warst statt dessen im Turnsaal zur Kg. Du wurdest von dort abgeholt und mürrisch schauend in den Mathe Unterricht geschoben. Du warst mir direkt sympathisch….

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.