„Bitte füttern sie ihr Kind dreimal täglich mit rostigen Nägeln und Rasierklingen! Nach drei Wochen zerstückeln sie die Überreste und kippen den übrig gebliebenen Rest in eine Schachtel! Diese verstauen sie dann unter dem Bett, und wann immer Ihnen danach ist, sich daran zu erinnern, dass sie ein Kind hatten, holen sie die Schachtel wieder hervor!“ Dies war zweifelsohne der Subtext, der bei uns ankam, als mein Kinderarzt die Worte sagte: „Wir werden wohl mit Cortison und MTX beginnen müssen!“
Wir verließen die Praxis mit einem Rezept über beide Medikamente und zerrissen es, noch bevor wir aus dem Gebäude auf die Straße traten. Nebenwirkungen, die ich von leichtesten Antirheumatika hatte, waren noch eine Sache, aber Nebenwirkungen von Cortison und MTX zu riskieren…
Im Herbst 1995 kehrten wir der Schulmedizin den Rücken und suchten eine Alternative …
Es lebe die Akupunktur, NOT!
Ich sitze in Shorts auf der Couch im Wohnzimmer meiner Großmutter und sehe aus wie ein Igel! Meine Beine liegen vor mir ausgestreckt auf zwei Kissen auf dem Couchtisch und sind übersät mit einer Tonne an Akupunkturnadeln, und das seit geschlagenen 4 Stunden!
Schläfrig, und mir fällt langsam die Decke auf den Kopf, da höre ich plötzlich leises Gemurmel auf dem Flur. Deutlicher Zweifel schwingt in der Stimme meiner Mutter mit, als sie sich flüsternd an ihre Mutter wendet: „Mama, bist du sicher, dass die Nadeln so lange drin bleiben müssen?“ – „Aber schau doch, Kind“ antwortet ihr meine Großmutter ebenfalls flüsternd, „hier im Buch steht es auch, die Nadeln müssen von selbst rausfallen, und so habe ich es auch in meiner Fortbildung zur Akupunktur-Ärztin gelernt!“
Ich weiß ja nicht, wer was wie gelernt hat und wer was wie gelehrt hat, aber das kann so nicht ganz stimmen, geht es mir durch den Kopf. Jedenfalls kommt meine Mutter auch zu dem Entschluss. „Aber Mama, du kannst doch nicht von deinen Patienten verlangen, sich den ganzen Tag frei zu nehmen, um eine Akupunkturbehandlung durchführen zu lassen?!“ geht die Diskussion im Flüsterton weiter.
Die müssen denken, ich sei eingeschlafen, denn anders kann ich mir das Gespräch im Flur auch nicht erklären. Ein paar Minuten später wurde ich dann von meiner ersten Akupunkturbehandlung erlöst.
Ein Monat lang wurde ich zweimal die Woche „gepiekst“. Zwar wurde nochmal nachgelesen, dass 20 Minuten „genagelt“ zu werden völlig ausreicht, aber der gewünschte Effekt beziehungsweise auch nur die geringste Art von Linderung blieb aus.
Es lebe die Homöopathie, NOT!
Ein älterer, grauhaariger Mann mit Brille sitzt hinter einem altertümlichen Schreibtisch in einem schicken, geräumigen Altbau-Zimmer mit Stuck an der Decke und stellt die merkwürdigsten Fragen, die ich je zu hören bekommen habe. Zum Beispiel: Ob mir bei Schupfen das linke oder das rechte Nasenloch zuerst zu geht? (Diese Frage blieb mir besonders in Erinnerung, da sie mich bis heute zum Lachen bringt: Was macht das für einen Unterschied???)
Nach einer fast einstündigen Anamnese ist der erste Termin auch schon rum. Herr Dr. „Wunderlich“ verkündet, dass er sich jetzt erstmal Gedanken darüber machen muss und uns seine Erkenntnisse beim nächsten Termin verkünden wird und kassiert 350 DM von uns.
Beim zweiten Termin stellt Herr Dr. „Wunderlich“ noch die ein oder andere Frage, um die letzten Wissenslücken bei sich zu füllen, verabreicht mir 3 Globuli, macht einen Kontrolltermin für nächste Woche aus und kassiert 350 DM von uns.
Beim dritten Termin sagt Herr „Dr. Wunderlich“: „Oh wunderlich, wunderlich, eigentlich müsste die Therapie sofort anschlagen. Hmm, ich gebe dir jetzt diese anderen drei Globuli und wir sehen uns nächste Woche wieder.“ Und kassiert 350 DM von uns.
Etliche „wunderliche“ Termine ohne Linderung später beschlossen wir, den Tatsachen ins Auge zu blicken: ob wunderlich oder nicht, ES WIRKT EINFACH NICHT BEI MIR!
Es lebe die Schulmedizin 2.0, NOT!
„Ich hab’s geschafft!!!“ Stolz wie Bolle strahlt uns meine Physiotherapeutin an und fährt fort: „Ich hab meine Freundin, die Physiotherapeutin im Klinikum ,Zum-Heiligen-Horror-auf-Erden‘ ist, erreicht und euch einen ,Schnuppertermin‘ besorgt. Dann könnt ihr euch immer noch entscheiden, ob ihr wieder in die Schulmedizin einlenken wollt oder nicht!“ So wie die strahlt, ist klar, für welchen Weg sie sich entscheiden würde.
Zugegebenermaßen, nach der Pleite mit der Akupunktur und der Homöopathie probierten wir noch alles mögliche andere aus: von klassischer Naturheilkunde bis hin zur makrobiotischen Ernährung blieb alles ohne Erfolg.
Und so fuhren wir (meine Eltern und ich) etwas weniger als anderthalb Jahre, nachdem wir der Schulmedizin den Rücken gekehrt haben und mit mir bereits im Rollstuhl, in das besagte Klinikum „Zum-Heiligen-Horror-auf-Erden“ zum „Schnuppertermin“, gespannt was uns erwarten würde …
… Stunden später verließen wir fluchtartig das Gebäude. Bis wir im Auto waren und sogar bis wir das Klinikgelände verlassen hatten, sagte niemand ein Wort. Sobald wir auf der Straße waren, gab mein Vater Gummi und bei mir und meiner Mutter brachen die Dämme.
Wir heulten, bis wir lachten, und lachten, bis wir wieder heulten, und dann brach es aus meiner Mutter als erstes heraus: „Ich hatte solche Angst, dass ich die falsche Entscheidung getroffen hatte, als ich dir die Schulmedizin verweigert hatte!“ Und aus meinem Vater brach es raus: „Und ich hatte solche Angst, dass durch die alternative Medizin wir alles nur noch verschlimmert hätten!“ Und ich hatte dazu nur zu erwidern: „An so einen Blödsinn habe ich gar nicht denken können, denn ich hatte panische Angst, dass das nur ein Trick war, um mich ins Klinikum zu verfrachten und mich da zu lassen!“
Entsetzt blickten mich meine beiden Elternteile an: „Nun erklär du uns mal, wie du auf so einen Blödsinn kommst! Wir sind mit dir durch die Hölle gegangen, und wenn es sein muss, laufen wir dort gemeinsam weiter spazieren! Aber dich werden wir nie irgendwo einfach so lassen!“
Es lebe „Dr. Dichschicktderhimmel“, ernsthaft!
Nach all dem unbeschreiblichen Grauen, das wir in der Klinik „Zum-Heiligen-Horror-auf-Erden“ gesehen haben, ist es nur allzu verständlich, mit wie viel Abscheu und Widerstand wir dem armen „Dr. Dichschicktderhimmel“ begegnet sind. Und als er nach zwei Minuten die Worte: „Kinderklinik: Garmisch-Partenkirchen, SOFORT!!! Und dieses schwachsinnige Gutachten der MDK widerlege ich!“ sprach, beeindruckte uns das wenig.
Im Gegenteil sogar, unsere gesamte Skepsis ergoss sich über den armen Mann.
Der hörte sich alles gründlich an und sagte erst ganz zum Schluss einen einzigen Satz: „Ich möchte, dass ihr, alle zusammen, Rachel kennenlernt, und danach erwarte ich euren Anruf bezüglich der Einweisung nach Garmisch-Partenkirchen.“
Wieder, nach all dem unbeschreiblichen Grauen, welches wir in der Klinik „Zum-Heiligen-Horror-auf-Erden“ gesehen haben, hatten wir alle Angst, was uns erwarten würde, als meine Mutter ein paar Tage später losfuhr, um Rachel vom nächstgelegenen Bahnhof abzuholen.
Und da war sie plötzlich, ein stinknormales Mädchen mit Rheuma. Keine „wandelnde-Ansammlung-von-sämtlichen-Nebenwirkungen-die-man-nur-kriegen-kann-auf-zwei-Beinen“.
Sie war blond, schlank, hatte eine Brille und war in meinem Alter. Sie sah so herrlich gesund aus, dass sie mir sogar beweisen musste, dass sie wirklich krank ist, da ich anfing zu glauben: sie kann nur ein Fake sein! Außerdem fragte ich sie, ob alle in GAP so ausschauen würden – so gesund, oder ob sie ein Einzelfall wäre.
Kaum war der Besuch um, wurde mein Aufenthalt in GAP in die Wege geleitet.
In Garmisch-Partenkirchen stellten sie dann meine außergewöhnlich aggressive Form von Rheuma fest und erklärten, dass es zwar gut war, mich vor den experimentellen Versuchen und den daraus resultierenden Nebenwirkungen zu schützen, aber mit alternativer Medizin allein mein Rheuma nicht in den Griff zu kriegen ist. Unterstützend: ja, aber als Alleinmittel: höchst utopisch.
À bientôt
Eure BeaBu
Dein Anblick als gespickter Akupunktur-Igel war bestimmt einzigartig 🙂
Oh ja, total
Tjaaa… wenn sich alternative Medizin Dinge vornimmt, die sie nicht bewältigen kann, macht sie sich einen schlechten Namen. Die wirklich guten Alternativmediziner die ich kennenlernen durften, haben beim Anblick meiner chronisch kranken eitrigen Mandeln immer nach Krankenhaus und starken Antibiotika geschrien 😀
So soll es auch sein! Ich finde grundsätzlich alternative Medizin super!
Nur weiß ich, für meine Teil, dass sie sehr schnell an ihre Grenzen stoßen kann!
Ich meine, um fair zu sein, ich bin auch ein besonderes ungewöhnlich harter Fall! 😉