„Die Operation ist gut verlaufen, jedoch habe ich wegen des Zeitdrucks nur das Inlay ersetzt!“ Wie bitte, was? Hab ich mich gerade verhört? Was gab es denn noch zu tun? Frisch operiert liege ich schweigend im Krankenhausbett und beobachte die Chefarztvisite.
Ein Schauspiel ohnegleichen: Herr Prof. Dr. Chefarzt steht mit seinem Gefolge aus dem mir bekannten Assistenzarzt und einer Schar Medizinstudenten, die es zu beeindrucken gilt, vor meinem Bett und alle haben ihre Rolle perfekt intus. Der Herr spricht und alle machen beeindruckt „Oh!“ und „Ah!“, machen ein kluges Gesicht oder versuchen zumindest, ein nicht allzu dummes zu machen und alle nicken fleißig an den richtigen Stellen.
So, dann fahret fort: die Bühne gehört dem Star!
Der Herr Prof. Dr. Chefarzt verkündet, dass, hätte er mehr Zeit gehabt, so hätte er das komplette künstliche Gelenk aus meinem Unterschenkel herausgemeißelt, um es aufgepolstert wieder einzusetzen. Er geht davon aus, dass ich dadurch nicht mehr humpeln würde. Ein beeindrucktes Gemurmel der Studenten setzte augenblicklich ein, während ich angestrengt versuchte, mein vor Entsetzen entgleistes Gesicht unbemerkt wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Himmel sei Dank, dass Herr Prof. Dr. Chefarzt sich genötigt gefühlt hat, nur das nötigste zu tun!“ geht es mir durch den Kopf und weiter denke ich: „Es reicht für einen Herrn Prof. Dr. Chefarzt eben nicht aus, einfach mein Knie zu reparieren und mein Held zu sein! Nein, er muss sich natürlich aufspielen, dass er seine Arbeit weitaus besser machen kann als seine Kollegen!“ Warum vergesse ich jedesmal, dass, wenn ein Arzt begriffen hat, was für eine Seltenheit ich bin, sein Wunsch einer eigenen „Signatur“ zu dem Kunstwerk überhand nehmen kann und wie gefährlich diese Überschätzung letztendlich für mich werden kann? In diesem Falle wäre die Wahrscheinlichkeit eines Totalschadens so groß gewesen, dass es mir nur kalt den Rücken runter läuft. Hmmm, oder erzählt er das jetzt gerade nur um seine Studenten zu beeindrucken?
Da grätschte Herr Prof. Dr. Chefarzt in meinen Gedankengang, indem er verkündete: „Aus Rücksicht auf die kommende Hochzeit wurde die OP auf das nötigste beschränkt und ein neuer OP-Termin auf nächste Woche Dienstag angesetzt. Donnerstag wird BeaBu entlassen und Montag wird sie wieder stationär aufgenommen.“
Ich sagte die ganze Visite über kein Piep. Ich war ihm zu dankbar für die schnelle Hilfe, als dass ich seine Autorität vor seinen Studenten untergraben wollte, indem ich ihn unter anderem gern gefragt hätte, ob man ihm ins Hirn gesch@&€* hat, sowas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Dafür hätte ich noch genug Zeit bis zur nächsten OP und dafür benötigte mein Ego auch kein Publikum. Also bedankte mich recht herzlich für die schnelle Hilfe und damit war die Visite zu Ende.
Zu GAST bei meinen Eltern
Am Donnerstag Vormittag wurde ich, zwar im Rollstuhl, aber immerhin, entlassen. Da es vom Timing nicht ganz aufging, bekam ich eine „Liveübertragung“ aus dem Standesamt. Während ich auf gepackten Koffern saß, schickte mir mein Mann kontinuierlich alle paar Minuten aktuelle Videos von der Trauung per WhatsApp. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Trauungssaal im Obergeschoss ohne Fahrstuhl war und ich mit der „Liveübertragung“ besser bedient war als zum Beispiel mein Großvater, der im Auto sitzen blieb, weil er nicht die Stufen hoch kam.
Jedenfalls fand der anschließende Empfang bei meinen Eltern im Garten statt.
Ein riesiges Zelt wurde am Tag vorher aufgebaut, in dem alle Gäste nach dem Standesamt Platz fanden. Gleich nachdem die Trauung vorbei war, holte mich mein Schatz ab und wir erreichten die Hochzeitsgesellschaft pünktlich zur Buffeteröffnung. Es war alles super stimmig! Meine Schwester war eine wunderschöne Braut! Das Essen war deliziös und das Ambiente wundervoll!
Weil meine Wohnung keinen barrierefreien Zugang hat, verbrachte ich die Nacht bei meinen Eltern und am folgenden Nachmittag sollten mein Mann und ich bis Montag ins Hotel einchecken, in dem die eigentliche Hochzeitsfeier am Samstag stattfand.
Am Morgen erwachte ich unsanft aus dem Schlaf. Irgendwas hatte mich geweckt, nur könnte ich nicht genau sagen, was. Es war mehr so ein ungutes Gefühl, so als hätte ich irgendwas vergessen oder als würde irgendwas schreckliches passieren… aber was? Ich blickte mich im Wohnzimmer meiner Eltern um: Alles friedlich, alles schick. Ich hab’s tatsächlich geschafft und werde bei der Hochzeit meiner Schwester dabei sein bzw. bin ich schon dabei, ging es mir durch den Kopf. Später geht’s ins Hotel und nach dem Wochenende…zitternd wird mir bewusst, dass, wenn ihn niemand aufhält, der Herr Prof. Dr. Chefarzt nächste Woche mein Bein zerstören wird. Das ist mein ungutes Gefühl! Leichte Panik ergreift mich, als ich versuche, meiner gerade das Wohnzimmer betretenden Mutter meinen aufgelösten Zustand zu erklären.
Nur, interessanterweise sieht meine Mutter den Wald vor lauter Optimierungswunsch nicht: „Aber BeaBu, man kann doch alles verbessern! Vielleicht kann er etwas machen, was andere nicht können.“ „Klar Mama, und vielleicht können Schweine irgendwann fliegen! Ich bin jedenfalls nicht mehr bereit, unnötige Risiken einzugehen, damit ich ggf. optisch ein schöneres Gangbild habe.“
Diese ganze Diskussion brachte mich auf die Idee mir eine weitere Meinung zu dem Thema einzuholen, und ich rief wieder bei meinem Haus- und Hof-Chirurgen an. Schließlich war es ja auch sein Studienfreund, der im Begriff war, ggf. seine Arbeit zu zerstören. „ER WILL UND HAT VOR WAS ZU MACHEN???“ polterte es durchs Telefon. Ja, mein Prof. ist entsetzt und fährt fort: „Ok, ich rufe ihn sofort an und werde anfragen, wie er im Nachhinein verantworten kann, wenn ihm BeaBu’s Knie um die Ohren fliegt?! Ich werde dabei aber äußerst diplomatisch sein müssen, schließlich hat er uns einen riesengroßen Gefallen getan. Gott sei dank fühlte er sich unter Zeitdruck und hat das nicht gleich versucht!“ Habe ich erwähnt, dass ich meinen Prof. liebe?
Eine halbe Stunde später kam dann die Entwarnung: Die Herr Doktoren einigten sich darauf, dass der Herr Prof. Dr. Chefarzt mich zwar doch nochmal operieren sollte, jedoch um ausschließlich oberflächlich alles zu bereinigen, was über die Jahre verschleißt war. Ganz harmlos und ohne das Gelenk in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Kurzurlaub im Hotel um die Ecke
Sobald mein Schatz mich bei meinen Eltern abgeholt hatte und wir im Hotel eingecheckt waren, war mein ungutes Gefühl schon längst verflogen. Sowie ich eine Hotellobby betrete, vergesse ich den Alltag und fühle mich wie im Urlaub, selbst wenn sich das Hotel nur wenige Kilometer vom eigenen Zuhause befindet. Da ich mich im Rollstuhl befand, bekamen wir ein barrierefreies Zimmer.
Beim Anblick des Zimmers blieb mir die Spucke weg: es war doppelt so groß wie ein Standardzimmer mit einem vergrößerten Badezimmer mit einer begehbaren Dusche mit integrierter Sitzbank, die einen ganzen extra Raum einnahm und genug Platz bot, um mit dem Rollstuhl darin Platz zu finden. Nachdem wir uns 20 Minuten im Zimmer auf die Suche nach allen möglichen Gimmicks gemacht hatten (unter anderem fanden wir hinter einer Wand neben der Toilette elegant versteckt einen ausklappbaren Griff) erkundeten wir das Hotel. Prompt fanden wir den Saal, in dem am nächsten Abend die eigentliche Hochzeitsfeier stattfand und erblickten meine Mutter mit ein paar Helfern beim Dekorieren. Wir nutzen die Gelegenheit und schauten uns im Saal um und „präparierten“ meinen Sitzplatz. Ich wollte nicht im Rollstuhl am Tisch sitzen und die Problematik lag darin, dass mein Knie geschient war. Dadurch konnte ich es nicht beugen und musste mein Bein hochlagern, sonst rutschte ich seitlich vom Stuhl weg. Also versteckten wir einen kleinen Hocker unter dem Tisch bzw. unter der der Tischdecke, auf den ich dann bequem mein Bein lagern konnte. Danach gingen wir was essen und verbrachten einen gemütlichen Abend in der Hotelbar bei Live-Musik.
Am nächsten Abend war es dann auch schon soweit: die eigentliche Hochzeitsfeier!
Ich konnte es immer noch nicht fassen, wie viel Glück im Unglück ich letztendlich gehabt habe und es doch noch geschafft habe, überall dabei zu sein.
Eine halbe Stunde, bevor die ersten Gäste kommen sollten, begaben wir uns in den Saal. Ich instruierte die Fotografen und Kameramänner, mich bitte nicht im Rollstuhl abzulichten, sondern lediglich wenn ich am Tisch sitze. Nicht weil es mir peinlich gewesen wäre, sondern weil mein Zustand in diesem Fall nur temporär war und ich nicht damit verewiglicht werden wollte. Ich setzte mich auf meinen „präparierten“ Platz an der Hochzeitstafel und wartete, bis die Feier losging.
Was ich jedoch nicht bedacht habe, war, dass, als die 150 Gäste nach und nach den Saal betraten, sie direkt zur Begrüßung auf mich zugingen. Nach dem fünften Gast fühlte ich mich wie der Pate, dem jeder seine Aufwartung macht. Als alle Gäste ihre Plätze eingenommen hatten, führte mein Vater meine Schwester in den Saal und übergab sie meinem Schwager zum ersten Tanz. In dem Moment wusste ich, dass alle Strapazen der letzten Tage es Wert gewesen waren. Das war der Moment, für den ich so gekämpft hatte, und auch wenn es den ganzen Abend etwas in meiner Seele gepickt hat, nicht auf der Hochzeit meiner Schwester tanzen zu können, haben mein Mann und ich es dennoch geschafft, zusammen einen langsamen Tanz stehend zu schunkeln.
ENDE
P.S.:
Ich wurde am Montag wieder ins Krankenhaus eingewiesen und am Folgetag operiert. Optimierungsergebnis: Herr Prof. Dr. Chefarzt hat unter anderem einen losen Draht gekürzt, der mir bis dato noch nie Probleme bereitet hat, mit dem Ergebnis, dass es jetzt jedes Mal, wenn das Wetter wechselt, in meinem Knie blitzt, dass mir schwarz vor Augen wird!
Ach ja, die guten Chefärzte…
À bientôt
Eure BeaBu
Ach ja, die Herren Doktoren Fabelhaft. Ich habe mir von meinem McDreamy sagen lassen, dass sie sich sogar gerne selbst Theater vorspielen, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Es geht nunmal oft um die Privatschule ihrer Blagen oder um den überlebenswichtigen Zweitwagen. Aber das kann man schließlich nicht mal vor sich selbst zugeben.